Verbraucherdarlehensverträge: Der „Widerrufsjoker“

Verbraucherdarlehensverträge: Der „Widerrufsjoker“

Die Sachlage

Das Widerrufsrecht für Verbraucherkredite ermöglicht es, sich von hastig abgeschlossenen oder nachteiligen Kreditverträgen zu lösen. Gesetzlich besteht eine Widerrufsfrist von 14 Tagen, die beginnt, sobald die Kreditgeberin oder der Kreditgeber die gesetzlich vorgeschriebenen Informationspflichten vollständig und korrekt erfüllt hat. Wird diese Pflicht nicht eingehalten, können Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Vertragserklärung unter Umständen auch Jahre später widerrufen.

Auf den ersten Blick erscheint diese Regelung als fair und im Interesse der Verbraucher. Nur wenn Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer gemäß den gesetzlichen Vorgaben und dem europäischen Verbraucherschutz informiert werden, können sie fundierte Entscheidungen treffen. Verweigern Kreditgeberinnen und Kreditgeber diese Pflicht, sollte den Verbraucherinnen und Verbrauchern auch nachträglich die Möglichkeit gegeben werden, die so zustande gekommenen Verträge rückabzuwickeln.

Die Meinungen über die Entscheidung sind geteilt. Der Bundesgerichtshof (BGH) und der Europäische Gerichtshof (EuGH) urteilen derzeit unterschiedlich über den sogenannten „Widerrufsjoker“. Teile der deutschen Rechtsprechung sind weniger verbraucherfreundlich, während aus europäischer Sicht viele Verbraucherkredite aufgrund fehlerhafter Klauseln unbegrenzt widerrufbar sind.

 

Anwendungsbereich des „Widerrufsjokers“

Der primäre Anwendungsbereich umfasst Verbraucherdarlehensverträge. Dennoch kann der „Widerrufsjoker“ auch auf damit verbundene Verträge, wie etwa Kaufverträge für Autos, Anwendung finden. Grundsätzlich kann ein Verbraucherdarlehensvertrag innerhalb von 14 Tagen widerrufen werden, es sei denn, die Bank hat Fehler bei der Erfüllung ihrer Informationspflichten gemacht. Fehlt die Widerrufsbelehrung vollständig oder wird sie nicht korrekt erteilt und nicht nachgeholt, beginnt die 14-tägige Frist für den Widerruf nicht und kann somit auch Jahre nach Vertragsschluss noch in Anspruch genommen werden.

Doch wann sind solche Formulierungen fehlerhaft? Diese Frage wurde bereits vor den BGH und den EuGH gebracht. In aktuellen Entscheidungen hat sich der EuGH mit bestimmten Formulierungen und Angaben innerhalb der Vielzahl streitiger Belehrungsinformationen beschäftigt.

 

Das Grundproblem

Die Entscheidung des EuGH vom 26.03.2020 (Az. C-66/19) behandelt die Frage, ob eine bestimmte Art der Formulierung, die Verbraucher über den Beginn der Widerrufsfrist informieren soll, ordnungsgemäß ist. Im vorliegenden Fall wurde auf ein Gesetz verwiesen, das auf ein weiteres Gesetz verweist, um die Grundlage für die Berechnung des Beginns der Widerrufsfrist zu klären („Kaskadenverweisung“).

In der Vergangenheit hat sich der BGH bereits mit dieser Formulierung auseinandergesetzt. In seiner Entscheidung vom 22.11.2016 (Az. XI ZR 434/15) stellte er fest, dass eine solche Formulierung ausreichend und somit wirksam sei. Folglich können Verbraucher bei Verträgen, die lediglich die Richtigkeit solcher Formulierungen betreffen, den Widerrufsjoker nicht nutzen.

Der EuGH sieht dies jedoch anders und argumentiert, dass mit der „Kaskadenverweisung“ ein Verstoß gegen EU-Recht vorliegt. Der BGH hat in einer anderen Entscheidung zu einem kreditfinanzierten Autokauf die These aufgestellt, dass er sich zumindest für Darlehen, bei denen eine gesetzlich vorgegebene Musterbelehrung unverändert übernommen wurde, nicht an die Vorgaben des EuGH halten wird (Beschl. v. 31.03.2020, Az. XI ZR 198/19). Der BGH begründet dies damit, dass er ansonsten gegen einen klaren Gesetzeswortlaut entscheiden müsste, was einen Verfassungsverstoß zur Folge hätte. Diese Linie wurde auch in seiner Entscheidung vom 27.10.2020 (Az. XI ZR 498/19) bestätigt. Damit gibt der BGH seine zuvor genannte Rechtsprechung zur „Kaskadenverweisung“ in gewissem Umfang auf. Ab diesem Zeitpunkt geht der BGH auch davon aus, dass ein solcher Verweis in den Pflichtangaben bei allgemeinen Verbraucherkrediten (nicht bei Verbraucher-Immobilienkrediten) einen Fehler darstellen kann. Allerdings sieht der BGH auch bei einer „Kaskadenverweisung“ in den Pflichtangaben weiterhin keinen Fehler, wenn eine gesetzlich vorgegebene Musterbelehrung unverändert übernommen wurde.

 

Ausblick

Aktuell ist ungewiss, ob der BGH oder die Revisionsinstanz den Vorzug erhalten wird und wie Banken bei einem Widerruf reagieren. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass sie klein beigeben. Zudem bleibt unklar, ob der BGH seine Linie beibehalten kann und ob der EuGH oder das Bundesverfassungsgericht sich erneut mit der Materie befassen werden.

Der EuGH konkretisiert in seiner Entscheidung vom 09.09.2021 (Az. C-33/20, C-155/20 und C-187/20) weitere Informationen und Angaben, die in Kreditverträgen zwingend enthalten sein müssen. Wenn die Bank hier Fehler macht, kann dies ebenfalls dazu führen, dass Kreditverträge auch Jahre später widerrufbar sind. Besonders relevant für den „Widerrufsjoker“ sind folgende Pflichten:

  • Konkrete Angabe der Verzugszinsen bei Vertragsschluss
  • Anpassungsmechanismus
  • Verpflichtung zur Mitteilung der Berechnungsmethode für die Vorfälligkeitsentschädigung

 

Infolgedessen könnten zahlreiche allgemeine Verbraucherkreditverträge fehleranfällig sein.

Solange der BGH seine bisherige Linie fortsetzt und nicht durch das Bundesverfassungsgericht korrigiert wird, besteht die Möglichkeit, dass die Entscheidung des EuGH vorerst teilweise ins Leere läuft, insbesondere wenn der Kreditgeber eine gesetzlich vorgegebene Musterbelehrung unverändert und fehlerfrei übernommen hat. Dennoch könnten die unteren Instanzgerichte weitere Vorlagen an den EuGH geben.

 

Wer ist von der Entscheidung des EuGH betroffen?

Bitte beachten Sie, dass dies lediglich eine Übersicht ist und keinesfalls die Beratung durch einen Rechtsanwalt ersetzen kann. Vor der Erklärung eines Widerrufs sollten Sie sich umfassend juristisch beraten lassen.

 

Wann besteht die Möglichkeit des späten Widerrufs gemäß der EuGH-Entscheidung?

  • Sie haben Ihren Darlehensvertrag ab dem 11.06.2010 abgeschlossen.
  • Ihr Darlehensvertrag enthält eine Widerrufsbelehrung mit der Formulierung, dass die Widerrufsfrist „nach Abschluss des Vertrags, aber erst, nachdem der Darlehensnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB erhalten hat“ zu laufen beginnt. ODER
  • Die vom EuGH genannten Pflichtangaben, wie z.B. die Angaben zu Verzugszinsen oder zur Berechnungsmethode der Vorfälligkeitsentschädigung, sind ganz oder nicht ausreichend dargestellt.
  • Sie haben sich auch über die Risiken des Widerrufsjokers informiert.

 

Wenig erfolgsversprechend ist ein Widerruf in folgenden Fällen:

  • Sie haben Ihren Darlehensvertrag bereits im Jahr 2016 oder früher widerrufen und danach ist nichts mehr geschehen. In diesem Fall sollten Sie zunächst prüfen, ob Ihre Ansprüche aus der Rückabwicklung nach Widerruf aufgrund von Verjährung nicht bereits erloschen sind (Sie können den längst widerrufenen Vertrag nicht erneut widerrufen).
  • Sie haben Ihren Darlehensvertrag bereits widerrufen und das entsprechende Gerichtsverfahren rechtskräftig verloren.

 

Anlässe für einen Widerruf

Obwohl die Möglichkeit des Widerrufs besteht, ist es nicht immer sinnvoll, diese zu nutzen. Ein Widerruf kann sinnvoll sein in folgenden Fällen:

  • Durch den Widerruf des Verbraucherdarlehens soll auch ein damit verbundener Vertrag rückgängig gemacht werden (z.B. im „Dieselskandal“ oder bei mangelhaften Produkten).
  • Die Restschuld eines Darlehens soll abgelöst werden, ohne eine Vorfälligkeitsentschädigung zahlen zu müssen.
  • Sie haben das Darlehen bereits zurückgezahlt und möchten die gezahlte Vorfälligkeitsentschädigung zurückerhalten (BGH, Urteil vom 21.02.2017, Az. XI ZR 381/16).
  • Sie möchten aus einem laufenden Darlehen mit hohem Vertragszins aussteigen, da Sie durch die zwischenzeitlich niedrige Marktzinsverzinsung eine echte Kostenreduzierung während der Vertragslaufzeit erhoffen.

 

Der letzte Punkt kann jedoch ein Risiko darstellen. Der BGH hat entschieden, dass auch beim Widerrufsrecht der Grundsatz von Treu und Glauben gilt. Es obliegt dem Tatrichter zu entscheiden, ob ein Widerruf im konkreten Fall rechtsmissbräuchlich ist. Das Motiv, sich mithilfe des Widerrufs von den aktuell hohen Zinsen zu lösen, ist für sich genommen zwar kein Verstoß gegen Treu und Glauben (BGH, Urteil vom 12.07.2016, Az. XI ZR 501/15).

Somit kann der Widerrufsjoker sinnvoll sein, wenn ein Darlehen mit hohem Vertragszins abgeschlossen wurde und durch die zwischenzeitlich niedrige Marktzinsverzinsung eine echte Kostenreduzierung für die Vertragslaufzeit möglich ist. Dabei ist jedoch auch die Rechtslage zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu beachten.

 

Prüfung der Widerrufsbelehrung

Ein Widerruf sollte nicht leichtfertig oder übereilt erklärt werden. In einem solchen Fall, in dem ein Widerruf nach wie vor möglich ist, sollten Sie sich von einer Verbraucherzentrale oder einem Rechtsanwalt beraten lassen und Ihre Belehrung prüfen lassen.

 

Risiken

Nach Einreichung des Widerrufs können einige Risiken auf Sie zukommen:

  • Sie müssen mit Widerstand der Banken rechnen.
  • Es können hohe Anwalts- und Gerichtskosten entstehen (Rechtsschutzversicherungen helfen in diesen Fällen oft nicht).
  • Vor dem Widerruf muss gegebenenfalls die Anschlussfinanzierung oder die Rückzahlbarkeit des erhaltenen Darlehens sichergestellt sein.
  • Denken Sie daran: Nach einem (erfolgreichen) Widerruf muss das (Rest-)Darlehen, nebst einer bestimmten Verzinsung, innerhalb von 30 Tagen zurückgezahlt werden (ansonsten droht Verzug mit hohen Kosten und Bonitätsverschlechterung, die die Aufnahme eines anderen, günstigeren Darlehens oder den Abschluss anderer Verträge erschwert).
  • Bei einem wirksamen Widerruf sind auch regelmäßig die verbundenen Geschäfte betroffen (nicht in jedem Fall ist es jedoch im Interesse des Verbrauchers, dass z.B. neben dem Darlehensvertrag auch der finanzierte Kaufvertrag rückabgewickelt wird).

 

Wenn ein Widerruf nicht möglich ist

Falls ein Widerruf des Darlehensvertrages nicht möglich sein sollte, bleibt unter Umständen die vorzeitige Ablösung (ggf. mit Umschuldung) als Alternative. Banken verlangen jedoch bei festverzinslichen Darlehen eine Vorfälligkeitsentschädigung als Ausgleich für entgangene Zinsen. Wer diese Entschädigung jedoch fachkundig prüfen lässt, kann möglicherweise Geld sparen. Seien Sie jedoch vorsichtig, da eine Umschuldung auch schnell teuer werden kann.

 

Fazit

Der Bundesgerichtshof (BGH) und der Europäische Gerichtshof (EuGH) urteilen derzeit unterschiedlich über den sogenannten „Widerrufsjoker“. Aus europäischer Sicht können viele Verbraucherkredite aufgrund fehlerhafter Klauseln unbegrenzt widerrufen werden. Informieren Sie sich stets über die aktuelle Rechtslage und kennen Sie Ihre Rechte, während Sie auch die möglichen Folgen Ihres Handelns bedenken.

 

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